Mediziner blickt zurück
ROLF RAU Ehemaliger Rheumatologe berichtet in seiner Autobiografie über die Jugendjahre in Naumburg. Für April ist eine Lesung in der Stadtbibliothek geplant.
NAUMBURG – Der deutsche Rheumatologe Rolf Rau hat im vergangenen Jahr seine Autobiografie „Junge, das Einzige, was wir noch haben, ist dein Kopf … Erinnerung und Spurensuche“ veröffentlicht. Der Mediziner blickt darin zurück auf acht bewegte Jahrzehnte. Er schildert wichtige Lebensstationen und bettet die Erlebnisse gleichzeitig in den historischen Kontext ein. Prägend waren für Rau unter anderem seine Jugendjahre in Naumburg, wo er und seine Mutter nach Ende des Zweiten Weltkrieges lebten. Sein Buch wird der Mediziner am 16. April, ab 19 Uhr, in der Stadtbibliothek in Naumburg vorstellen. Franziska Fiedler hat vorab mit dem Autor gesprochen.
Was veranlasste Sie, Ihr bisheriges Leben aufzuschreiben?
Rau: Etwa um 2010 animierten mich Freunde, meine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Insbesondere wollte ich meine Kindheit im Vorkriegs-Polen, während des Krieges, die Flucht und die Schulzeit in der späteren DDR etwas abseits der offiziellen Geschichtsschreibung schildern.
Wie sind Sie an die Recherche zum Buch herangegangen? Mit welchen Schwierigkeiten sahen Sie sich konfrontiert?
Leider hatte ich mich nie für meine Vergangenheit interessiert, mit meiner Mutter kaum je darüber gesprochen, mein Vater war schon 1934 verstorben. Alle Zeitzeugen waren tot, fast alle Familiendokumente 1945 verlorengegangen. Lediglich zwei jüngere Cousins konnte ich über die Flucht ihrer Familien befragen. Einer meiner Patienten war als Kind auf das gleiche Internat in Reisen (Provinz Posen) gegangen wie ich. 2012 rief ich ihn an und nahm an einem Ehemaligentreffen der Napola-Schüler (Nationalpolitische Erziehungsanstalt) in Reisen teil. Von dort aus führte mich meine Reise unter anderem zu meinem Geburtsort Kolmar.
Im Kolmarer Wochenblatt (polnisch) war 2011 ein Artikel über meinen Vater erschienen – 77 Jahre nach seinem Tod. Darin heißt es: „Er war ein Arzt der Armen und der Reichen, der Deutschen, der Polen und der Juden, und behandelte alle gleich.“
Mir fehlende Informationen über die Schulzeit in Naumburg bekam ich durch Befragen ehemaliger Klassenkameraden.
Sie sind Ende des Krieges nach Naumburg geflüchtet, haben dort ihre Jugendjahre verbracht. Ihre Mutter hat Sie unter schwierigen Bedingungen allein großgezogen. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Naumburg?
Mit dieser Stadt verbinden mich viele Erinnerungen an eine sehr wichtige, für mein weiteres Leben vielleicht entscheidende Phase meines Lebens. Vom Internat in Reisen aus war ich als elfjähriger Kadett vor den Russen geflohen und kam Anfang Februar 1945 in Naumburg an. Meine Mutter fand mich hier am 5. April 1945 wieder. Wir bekamen eine kleine Dachkammer zugewiesen.
Am 12. April beobachteten wir von Kellerfenstern aus den kampflosen Einzug der Amerikaner. Am nächsten Tag beteiligten wir uns an der Plünderung des Heereszeugamtes und des Verpflegungsamtes. Drei Monate später kamen die Russen.
Unser Leben als bettelarme Flüchtlinge war geprägt durch Hunger, Hamstern, Stoppeln, Tauschen, auch Schwarzhandel. Ich besuchte ab September 1945 die Oberschule Naumburg. Sie war mir Heimat und Bildungsanstalt zugleich. Wir hatten hervorragende altbewährte Lehrer – die Hälfte promoviert. Sie vermittelten uns eine gute Allgemeinbildung und erzogen uns zu verantwortungsbewussten Menschen.
Die Klasse war eine verschworene Gemeinschaft. Alle waren nahezu gleich in ihrer Armut, ihren Wünschen und ihrer Ablehnung des Systems. Die Schule blieb ein Hort der Reaktion. Die Direktoren wurden häufig ersetzt, Lehrer und unliebsame Schüler der Schule verwiesen und verließen oft die DDR in Richtung Westen. Politische Diskussionen in der Klasse wurden vermieden.
Natürlich gab es auch sehr viele Erlebnisse, die mir die Schulzeit trotz aller Entbehrungen als schönste meines Lebens erscheinen lassen. Neben der Geborgenheit der Klassengemeinschaft und dem Stolz, die letzte reine Jungenklasse zu sein, waren es die rauschenden Schulfeste im großen Rathaussaal mit den Erfolgen unsere Aufführungen mit Fahrradakrobatik oder mit dem Stück „Landung der Marsmenschen“, die uns als Prämie eine Rennsteigwanderung und eine Harzreise einbrachten. Meine Liebe zum Tanz wurde durch mehrfache Teilnahme an Tanzschulkursen bei Mathilde Döring geweckt.
Welche Rolle spielte Naumburg, nachdem Sie zum Studium nach Berlin aufgebrochen waren?
Meine Mutter wohnte bis 1962/63 in Naumburg. Dann zog sie nach Berlin-West. Ich studierte bis 1957 an der FU Berlin. 1953 gab es neue Ostausweise. Ich habe meinen alten Naumburger Ausweis bei der Polizeibehörde in Schönwalde bei Berlin vorgelegt und einen neuen unter Angabe einer falschen Anschrift beantragt. Das war ein hochriskantes Unternehmen und hätte mich in der DDR wegen Ausweisfälschung und Spionageverdachts ins Zuchthaus bringen können.
Mit dem neuen Ausweis konnte ich im Ostsektor einkaufen und in den Semesterferien nach Naumburg fahren. Ich lebte in meinem alten Zimmer, konnte hier lernen, im Radio klassische Musik hören, Klavier spielen und alte Schulfreunde besuchen.
Manchmal juckte es in den Beinen, wenn vom Bürgergartenlokal her Tanzmusik erklang. Seit Herbst 1957 studierte ich in Gießen. Den Mauerbau erlebte ich bei einem Besuch in Berlin. Von Gießen und später von Zürich aus gab es Briefkontakte mit zwei Schulfreunden. Ich habe sie mit Reisegenehmigung mehrfach besucht, auch ihre Familien in Naumburg. Der zunehmende Verfall des Straßenpflasters und zahlreicher Gebäude hat mich erschüttert. Umso eindrucksvoller ist heute die Restaurierung der Stadt zu alter Schönheit.
An wen richtet sich das Buch?
Das Buch richtet sich an alle an der jüngeren Geschichte Deutschlands interessierten Leser. Darin schildere ich, wie es aus persönlicher Anschauung gewesen ist. Da sich eine entscheidende Phase meines Lebens in Naumburg abspielte, sollte es besonders für Naumburger interessant sein. Übrigens: Die medizinischen Passagen des Buches wurden auch für Laien verständlich geschrieben.
›› Der Eintritt zur Lesung am 16. April, 19 Uhr, in der Stadtbibliothek Naumburg ist frei. Sitzplatzreservierung möglich unter: bibliothek@naumburg-stadt.de oder 03445/20 22 50
Ein spannendes Zeitdokument auf Spurensuche: „Junge, das Einzige, was wir noch haben, ist dein Kopf“
„Junge, das Einzige, was wir noch haben, ist dein Kopf“, sagte Hildegard Rau wiederholt zu ihrem Sohn Rolf, nachdem die kleine Familie Ende des Zweiten Weltkrieges in Naumburg Zuflucht gefunden hatte und bettelarm in ein neues Leben startete. Diesen Ausspruch hat der spätere Rheumatologe auch zum Titel seiner 2017 im Uni-Med-Verlag erschienenen Autobiografie auserkoren. Darin schildert Rolf Rau, Jahrgang 1933, sein bewegtes Leben: die glücklichen Kindheitstage in der Provinz Posen (Polen), die Flucht des Elfjährigen Ende des Krieges aus dem Internat, das Wiedersehen mit der Mutter in Naumburg nach fast drei Monaten der Trennung und Ungewissheit, die harten Jahre der Nachkriegszeit in der Domstadt, die durchaus mit glücklichen Erinnerungen an die Jugendjahre verbunden sind, den Aufbruch nach Berlin zum Medizinstudium und den strebsamen Aufstieg zum Professor und weltweit anerkannten Rheumatologen, der Rau über Marburg, Gießen und Zürich bis nach Ratingen führte.
Neben den persönlichen und teils sehr privaten Schilderungen, versteht es Rau, seine Erfahrungen und Erlebnisse im historischen Gesamtzusammenhang darzustellen. Mit dem Leser teilt er ab und an auch die eigene Meinung zu geschichtlichen Hintergründen. Das letzte Drittel gewährt einen interessanten wie seltenen Einblick in den Wissenschafts- und Medizinbetrieb.
Das spannende Zeitdokument hat 367 Seiten und ist für 19,95 Euro im Uni-Med-Verlag zu erhalten.
Quelle: Naumburger Tageblatt vom 3. April 2018